Seit der ersten Pilleneinnahme mit 17 kämpfe ich mit meinem Gewicht. Gegen meinen eigenen Körper.
Ich war auch als Kind nie zart gebaut, ich war immer ein kräftiges, griffiges, zähes Kind, ich bin immer tatsächlich stark gewesen. Meine Handgelenke sind breit, meine Hände, Füße und Knie groß, niemand sieht meine Achillessehne. Bei Sportarten im Wasser war ich gut (Seepferdchen mit 5, Bronze, Silber, Gold mit 12, DLRG-Scheine mit 15, Leistungsschwimmen von 16-18) und mit oder ohne einem Schläger in der Hand und Bällen (Golf ab 7, Tennis ab 12, Volleyball ab 15). Alle Jugend-Trainer*innen haben mir schnelle körperliche Auffassungsgabe und Umsetzung bestätigt, in Ballsportarten immer ein Talent gesehen, richtig gut zu sein.
Seit der ersten Pilleneinnahme (17 Jahre alt – 1,73m groß – ca. 75kg schwer) bis zur letzten Pilleneinnahme ist mein Gewicht von +15/20kg in 3 Mon (mit Einnahmestart) bis zu -40kg in 10 Monaten (ohne Einnahme) geschwankt. Bei jedem neuen Ernährungs-Umstellungs-plus-Sport-Versuch haben mir Trainer*innen auch als Erwachsener Erstaunlichkeit unterstellt: erstaunlich viele Muskeln, erstaunlich gute Bewegungen, erstaunlich schnelle Auffassung der Übungen, immer mit dem Zusatz: “für ihre Statur”, “für ihr Gewicht”, “für ihren Trainingsstatus”.
Ich fand immer nur erstaunlich, dass Muskelmasse bei mir erstaunlich genannt wird, wo doch irgendwer diesen Körper durch die Welt tragen muss, ich langsames Gehen nicht ab kann, also meine Beine mich schnell durch die Gegend tragen müssen. Aber gut.
Ich habe seit ich ca. 20 bin jeder*m Ärztin mitgeteilt, dass ich bei egal welcher Pille mit ca. +15kg in 3 Monaten reagiert habe, es eventuell zu Stillständen kommt, ich aber während der Einnahme nicht mehr von dem jeweiligen Gewicht runter komme. In der Schwangerschaft hat meine Frauenärztin mir dann verboten, Gewicht zu reduzieren, weil ich im fünften Schwangerschaftsmonat bei minus 12kg war – ich habe aber nicht willentlich abgenommen, geschweige denn eine Diät gemacht. Immer habe ich gefragt, ob diese Schwankungen normal sind, ob wirklich alle Frauen mit Pille 15kg in 3 Monaten zunehmen, immer war es – wenn überhaupt – meine Schuld, meine unbewusste Nahrungsumstellung.
Ich hätte erst mit Notizbüchern, dann Apps belegen können, dass ich eben nicht anders esse – trotzdem lauteten die Reaktionen, da würde ich mich wohl “selbst belügen” und (mir selbst) Nahrungsaufnahme verschweigen. Das ist natürlich eine sehr logische Unterstellung an jemanden, der verzweifelt versucht, nicht zuzunehmen. Dass man sich selbst belöge und vor sich selbst heimliche Schlemmereien verberge. Sehr logisch. Auch für jemanden, der jede erdenkliche Diät, Ernährungsweise, -umstellung, Fasten usw. ausprobiert hat, dass es selbst die Brigitte-Diät-Redaktion erblassen ließe, dann über Jahre penibel jede Kalorie gezählt und im Zweifel mit Taschenrechner in Points umgerechnet hat, sich mit allen erdenklichen diätologischen und medizinischen Infos zu Ernährung, Nahrungsaufnahme und -verwertung usw. beschäftigt hat. Selbst-Betrug! Ganz klar.
Vor der Geburt hatte ich dann doch 8kg zugenommen, nach der Geburt haben 12kg Baby, Fruchtwasser und Wassereinlagerungen mich wieder verlassen und ich war so glücklich. Natürlich habe ich dann wieder mit der Pilleneinnahme begonnen. Wer hätte gedacht, dass das Glück nach zwei Monaten und + 20kg schon wieder vorbei war? Naja, ich.
Über 3 Jahre wurde es mehr und mehr, ich unglücklicher und verzweifelter. Dann – plötzlich – ging’s. Ich habe mithilfe selbsterrechneter Punkte (nach uraltem Weight Watchers Prinzip) trotz gutem Essen und keiner Sekunde Hunger oder Qual abgenommen und abgenommen, die Kilos fielen nur so von mir ab, alle Welt hat sich gefreut: “jetzt bist Du außen so schön wie innen”. Aber natürlich durften auch “jetzt noch 10 Kilo weniger, dann bist Du eine Granate” und dergleichen nicht fehlen. Wie käme man auch dazu, einen Frauenkörper nicht zu bewerten und immer neue Ansprüche an ihn zu stellen.
Nach -42kg bin ich zu einer Hautärztin gegangen um zu erfragen, was ich mit meinem Bauch machen kann? Mit der Haut, die zwar nicht leer, aber schwer war und sich anschickte, zu hängen. Nichts, empfahl sie, bloß nicht rütteln oder sinnlos Geld für irgendwelche Heilsversprechen ausgeben. Nachdem ich einfach viel zu schnell viel zu viel Gewicht verloren hätte, könnte ich auf eine OP sparen, maximal. Sie zog zwar die Augenbrauen hoch, dass ich nie vorhatte, so schnell soviel Gewicht zu verlieren und eben keine Radikaldiät gemacht hätte, fragte mich, ob es irgendwelche Diagnosen gäbe, aber mehr passierte nicht. Gehalten habe ich das Gewicht zunächst wie eine Weltmeisterin des Gewichthaltens.
Trennung, Umzug, Geldsorgen und Not – ich habe das Gewicht gehalten. Jedes Gramm in die Tabelle, abendliches Runterkommen mit der Gewichts-, Essens- und Kalorien-Excelliste. Drei Jahre.
Neuer Freund, neue Pille, neue 10kg. Pille abgesetzt, trotzdem neue 10kg. Elend, Kummer, Trauma, Depressionen. Neue 10kg. Ein Jahr. In der die Excelliste jeden Abend nicht mehr als 1500kcal Nahrungs- und Getränkeaufnahme aufzeigt.
Dann musste ich Ärzten erklären, dass meine Antidepressiva erhöht werden müssen, weil sie sich mit Nikotin um Andockstellen streiten, aber genau solche Ärzte erklärten mir trotzdem, ich würde falsch essen, mich selbst betrügen. Hormongeschichten? So ein Quatsch, das ist eine ganz schlichte Kaloriendefizitgeschichte, sie essen zuviel. Ganz klar. Bei inzwischen 1200kcal zeigt mein Körper mir immer noch allabendlich eine neue Grammzahl hinter dem Komma. Haha, dann auch vor dem Komma. Eine Pittyparty meines Körpers, Tränen als Konfetti. Mein Freund, der vor dem Spiegel meinen Bauch zusammenquetscht und meine Bauch-gequetschte-Rückansicht im Spiegel mit “so wär’s schön” kommentiert. Eine einzige Qual.
Von allen anderen Menschen kam zu diesem Zeitpunkt immer die Meldung, das sei gar nicht so schlimm, ich sei schön, wie ich sei, ich wäre schließlich auch Mutter. Mein damals 12jähriger Sohn, vor dem ich meinen Körperkummer immer mehr oder minder erfolgreich zu verbergen versucht habe, erklärt mir aus dem Nichts, dass man bei mir viel besser geborgen sei, als bei anderen Leuten, weil die alle so hart und unnachgiebig seine. Ich wäre aber so schön weich und rund, ich fühlte mich genauso lieb an, wie ich innerlich sei.
Trennung, Kummer, Umzug, neue Ärztin – eine alte Bekannte in meiner alten Stadt, die Erste, die sagt “komm’ wir machen mal einen Schilddrüsencheck”. Und feststellt, dass diese nur noch aus rudimentären Resten besteht. Die zusätzlichen Bluttests ergeben Hashimoto Thyreoiditis. Eine neue Frage taucht auf: “Hattest Du mal einen ganz plötzlichen Gewichtsabfall, also eine Zeit, in der Du sehr schnell sehr viel Gewicht verloren hast?” Das wäre dann eine klassische Phase der Überfunktion vor dem Totalausfall gewesen. Ja, in der Tat. Minus zweiundvierzig Kilo in zehn Monaten, der wundersame Erfolg der Punktezählung.
Zu allererst war ich tatsächlich erleichtert. Eine Autoimmunkrankheit ist kein Grund zur Freude, aber der Gedanke, die Bestätigung, dass ich nicht alleine Schuld bin an meinen Gewichtsschwankungen, dass es eventuell eben doch Gründe dafür gibt, die in meinem Körper selbst, im Hormonhaushalt, in Organfunktionen liegen, hat mich unendlich erleichtert. Nun konnte ich mich dem Thema endlich anders zuwenden, konnte die Selbstverachtung, die ständige Kontrollzwänge kurzfristig ablegen.
Ich habe mich mit ‘radical self acceptance‘ beschäftigt. Einer Idee, dass Begriffe wie schön und hässlich, dick und dünn als Kategorien real sind, jedoch keinen inhärenten Wert haben. Die Begriffe benennen etwas zunächst wertfrei, gesellschaftliche Vorgaben aus sozial konstruierten Parametern versehen diese mit einem Wert, der sich entlang gesellschaftlicher Entwicklung, bzw. im Laufe der Zeit wandeln kann und regional oder kulturell vollkommen unterschiedliche Belegung erfährt. Selbst die subjektive Wertung von hässlich und schön entsteht nur aus Zeit und umgebender Gesellschaft, bzw. der Zeit und dem vorherrschenden Konstrukt, in dem man aufwächst und lebt.
Ein Pullover, Baum, Tier oder Mensch ist erst einmal nur dick. Dass Dicke oder Fülle beim Mensch gleichzeitig Hässlichkeit bedeuten muss, Abwertung rechtfertigt, für wertlos oder verachtenswert befunden wird und zwanghaft verändert werden muss, weil dem sonst auch noch charakterliche Eigenschaften, persönliche Defizite unterstellt werden – bspw. Faulheit und fehlende Leistungsbereitschaft in einer Leistungsgesellschaft, Nichtentsprechung einem Ideal männlicher Attraktion in einer patriarchalen Welt, keine Zielgruppenentsprechung im Kapitalismus, Völlerei in christlich-religiöser Scham und Schuldlogik – ist dem Zustand unserer jeweiligen Welt geschuldet.
Es geht also darum, (z.B.) dick, dünn, hässlich und schön voneinander, aber vor allem von inzwischen vollkommen pervertierten Wertzuschreibungen zu lösen und sie als reale und bestehen dürfende Kategorien hinzunehmen. Um dann zu erkennen, dass man den eigenen Körper weder nur entlang zeitlichen oder sozialen Idealen als seinen und immanent wert anerkennen kann, noch von außen zugeschriebene Mängel oder Hässlichkeit etwas daran ändert, dass man selbst und der eigene Körper Existenzrecht hat, Liebe und Fürsorge verdient hat und frei von diesen Zuschreibungen in sich wert ist.
Man muss sich nicht selbst lieben, sondern tatsächlich einfach anerkennen, hinnehmen und radikal akzeptieren, dass man ist, ohne den passenden Kategorien (dick, dünn usw.) eine Wertung überzustülpen, die in Konsequenz Wertlosigkeit des Körpers bedeutet. Es braucht keine Selbstillusion von Schönheit, weil nur diese Liebenswert verspräche.
Darüber bin ich dahin gekommen, dass ich mich selbst im Spiegel betrachte, benennen kann, was für mich subjektiv wie aussieht – ich meinen dicken Bauch zum Beispiel hässlich finde – es aber an- und hinnehme, als etwas das (trotzdem) einfach zu mir gehört, meins ist, mich durch mein Leben begleitet oder getragen hat, hässlich sein darf, aber deshalb weder mein Bauch, noch ich als Ganzes weniger Fürsorge- oder Liebenswert verdient hätte. Ich muss mir nicht selbst vorgaukeln, dass mein ganzer Körper schön sei, um ihn lieben zu können oder zu dürfen, mein Körper darf an Stellen oder auch ganz objektiv dick zur subjektiven Kategorie hässlich gehören, ohne deshalb abgelehnt, verachtet, gehasst und zwingend verändert werden zu müssen.
Das habe ich Bekannten zu erklären versucht, die darauf mit “toll, dass Dir diese ganzen Diäten und Äußerlichkeiten egal sind” reagierten. Ich mache dann immer wieder sehr deutlich, dass mir eben gar nichts egal ist, sondern dass es in dieser Welt harte Arbeit war und ist, ganz bewusst Frieden mit seinem Körper zu suchen, dass ich mich radikal akzeptieren will, nicht mit Pseudo-Selbst-Liebe, sondern echten Frieden machen möchte. Mit der Einsicht, dieser Bauch und diese Beine und dieser Po werden keinem Ideal gerecht, aber sie sind meins, sie gehören zu mir, sie sind mein äußeres Erscheinungsbild, sie haben mich durch dieses Leben getragen und verdienen Akzeptanz, Fürsorge und Achtung. Frieden.
Dann gibt es die Freund*innen, die sagen “Deinem Auftreten hat man nie angemerkt, wie sehr Dich das gequält hat. Du bist so selbstbewusst.” Aber es hat auch niemals jemand gesagt, dass sie mir schwere Depressionen zugetraut hätten, oder man mir mein 46 Jahre lang undiagnostiziertes und permanent aufwendig mit coping strategien und work arounds kontrolliertes ADHS angemerkt hätte. Auch diesbezüglich wird immer auf mein Auftreten, mein Verhalten im Außen verwiesen. Vielleicht kann man daraus lernen, dass persönliche Probleme und Nöte eben oft nicht von außen erkennbar sind.
Wie auch immer. Ich bin bei: endlich Frieden.
Und mit L-Thyroxin endlich Gewichtsstillstand. Mal eine kleine Abnahme, dann Stillstand. Ohne Antidepressiva trotzdem gute Stimmung, Nicht furioser-wie-früher-Antrieb, aber Antrieb und weniger Elend. Mein Gewicht ist sicher trotzdem zu hoch, aber es steht. Ich fühle mich ok. Habe das Zählen endlich aufgegeben. Wiege mich nicht mehr jeden Tag oder wöchentlich, sondern nur noch einmal im Monat. Das alles sind für mich Riesenschritte in Siebenmeilenstiefeln persönlicher Entwicklung.
Und dann sagt vor zwei Tagen ein sportlicher, drahtiger Kardiologe und Internist, nachdem er auf dem Bildschirm alle eingetragenen Daten der Voruntersuchung durch die Assistenz gelesen hat und mit seinem Ultraschall über meinen Oberkörper slidet: “Ihr viszeraler Fettanteil – wissen sie was das ist? Viszerales Fett ist das sogenannte ungesunde Fett, das uns krank machen kann – also ihr viszeraler Fettanteil ist gar nicht höher, als meiner. Ihr Unterhautfettgewebe, das kann ich hier sehen, ist stark, das ist genetisch bedingt. Da können sie im Grunde gar nichts machen, außer wegschneiden lassen.”
Halbnackt auf dieser Liege liege ich und beobachte, wie er beim Sprechen auf das Gerät guckt, mit dem Gleitgeldingi über meine Milz, Leber, Galle, Nieren fährt, mir alle meine Organe erklärt, zu jedem sagt: “das sieht gut aus, das ist alles ganz in Ordnung” Und dann fortführt: “Aber wozu, das ist ja nicht ungesund. Ihre Organe sind alle wunderbar gesund und entsprechen ihrem Alter. Bei Ihnen ginge es ja nur um Optik. Ihr Muskelanteil ist super, sie sind stark, also können sie sich auch tragen. Das IST einfach ihr Körper, den sie da tragen. Wieso sollten sie sich mit radikalen Diäten oder extremem Sport nur quälen, sie werden das nicht grundsätzlich ändern können, auch wenn das viele Leute nicht wissen oder akzeptieren wollen und etwas anderes behaupten. Wenn Sie mehr Sport treiben, werden Sie nur mehr Muskeln aufbauen, das ändert an ihrem Bauch nichts. Wenn Sie rigoros unterkalorisch essen, baut ihr Körper diese Muskeln wieder ab und an ihrem Bauch hat sich dann immer noch nichts geändert. Also… essen sie einfach gesund und ausgewogen, um ihre bestehende körperliche Gesundheit zu erhalten. Mit ihrer äußeren Form Frieden zu schließen, sie anzuerkennen, wie sie ist, kann auch nur gesund sein.” Und berichtet mir beim Herzecho (“erstaunlich elastisch, ihr Herz, ganz toll, da ist alles so, wie es sein soll.”) neueste Erkenntnisse, die ich zwar selbst auch schon gelesen habe, aber dank lebenslanger Prägung für mich nicht mal als passend in Erwägung gezogen habe. Ich hab ja nix, ich bin nur selbst schuld. Traumata, Depressionen, Nervenzusammenbrüche, Schildrüsendiagnose mit 45, ADHS-Diagnose mit 46 und mit 48 begegne ich das erste Mal einem Arzt, der sagt: “sie sind ja gesund, warum sollten sie sich quälen.”
In diesem Haushalt wird sich nicht mehr gequält! Psychisch seit Jahren schon nicht mehr, körperlich hatte ich es schon gelernt, aber es war ein absolutes Erleichterungs-Knoten-Geplatze, dass das so richtig ist und das sogar offiziell ärztlich bestätigt.
Dieser Beitrag ist zuerst auf Twitter erschienen und wurde der besseren Lesbarkeit zu Liebe redigiert.