Es scheint unter Menschen immer populär, sich über (unfreiwillige) Betroffenheiten oder Zugehörigkeiten anderer lustig zu machen.
Ob das eine Form der Versicherung der eignen Überlegenheit ist, Abgrenzung eines vermeintlichen Normals – dem man sich angehörig sieht – vom Abnormal der Auszugrenzenden, Folge von lebenslanger Prägung eines hierarchischen und unmenschlichen Systems oder am Ende oft genug auch einfach Ausdruck einer unguten Persönlichkeit wäre eine spannende Auseinandersetzung, soll hier aber nicht Thema sein.
Das Lächerlichmachen gibt es in Form der Verharmlosung oder Leugnung von z.B. Rassismus- und Sexismuserfahrungen, findet sich aber auch bei allen anderen Zugehörigkeiten und Kategorisierungen, die unser Gesellschaftskonstrukt so dringend braucht.
Im Fall von Neurodivergenz – also der Abweichung der Beschaffenheit eines menschlichen Gehirns von der neurotypischen Beschaffenheit anderer menschlicher Gehirne – spielt Ableismus eine Rolle, es gibt ebenso viele Formen der Verharmlosung, Verächtlichmachung, Stigmatisierung und auch Leugnung, wie es das bei jeder anderen Abweichung von eng gesteckten sozialen oder politischen Grenzen eines Normal gibt.
Im Zusammenhang mit dem sogenannten Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom wird gern kommentiert, Menschen würden es nutzen, um persönliches Versagen zu rechtfertigen. ADHS sei generell überdiagnostiziert, Kinder sollten mit Medikamentierung nur ruhig gestellt werden, es diene zur Entschuldigung charakterlicher Mängel. Menschen, die ADHS hätten, seien ja nicht ihr ADHS. Aber auch: es hätten alle Menschen irgendwas, eine Diagnose sei generell nicht nötig, ADHS sei nicht real. ADHS sei eine erfundene Diagnose, um überdrehte Jungs zu pathologisieren, wilde Kinder zu bändigen, die Gesellschaft problematisiere eine bloße (geschlechtsspezifische!) Verhaltensauffälligkeit in einer überregulierten Welt. Auf der anderen Seite wird sehr gern unterstellt, Menschen, die über ihr ADHS sprächen, romantisierten eine psychische, mentale, Persönlichkeits-, Entwicklungs- oder Verhaltens-Störung oder auch “mentale Krankheit”. Gleichzeitig kultivierten Menschen bloß ihnen eigene Persönlichkeitsmerkmale (‘Quirkyness’) zur Diagnose – ADHS soll ganz am Ende immer nur eine abstruse Mode neuerer Zeit sein.
Ich bin hier Betroffene. Ich habe ADHS. Das ist nachweislich real. Ich störe mich nicht nur an diesen ganzen Kommentaren, ignoranten Verurteilungen und allgemeinem Nichtwissen, sondern auch am Fehlwissen und der diesbezüglich selbstüberhöhenden Ignoranz diagnostizierender Ärzt*innen, der Ausführung bestehender Diagnoseverfahren und an der übergeordneten Klassifizierung von ADHS als Verhaltens-, Entwicklungs- oder Persönlichkeits-Störung.
Alles oben genannte ist zusätzlich zur Intensität der Auseinandersetzung mit der eigentlichen Kondition schwer auszuhalten. Bei all diesen Mythen, Verharmlosungen oder Abwertungen, selbst bei der bisher erfolgenden Diagnostik (in Deutschland zumindest) wird grundsätzlich nicht betrachtet, wie ADHS für die Betroffenen selbst ist, was es bedeutet, damit zu leben. Wie es sich anfühlt. Es wird rein als Störung von Abläufen betrachtet, Überschreiten von Normen, oder eben persönliche Unzulänglichkeit, die in Graden der Genervtheit von Eltern und Lehrern zappeliger Kindern bemessen wird, Anstrengung, die es Bezugspersonen von Erwachsenen mit ADHS verursacht.

(Nur zur Sicherheit: weder zeigen alle Kinder/Erwachsenen mit ADHS erhöhte Impulsivität, noch sind sie “ausgeprägt” körperlich unruhig. Dass das die erste Info – für Pädagogen! – ist, die hier gehighlighted wird, ist katastrophal.)
Weil das alles elend ist, hilft meines Erachtens nur, sich immer wieder dagegen zu stellen. Und zu versuchen, es für andere Betroffene – insbesondere die eigenen Kinder – besser zu machen.
Neurodiversität ist heute ein umbrella-term. Neurologische Diversität bezeichnet die Varianz der Beschaffenheit menschlicher Gehirne. Er inkludiert also alle Gehirne und ihre jeweilige physiologische Erscheinung, neurologischen Funktionen und daraus resultierenden Fähigkeiten (neurotypische und neurodivergente Gehirne, denn die stellen dieser Sichtweise nach eben zusammen die Gänze der Varianten).
Der Begriff sollte bei Prägung zunächst dafür sorgen, Autismus als neurologische Varianz verständlich zu machen – in Abgrenzung zur Definition als Krankheit oder Störung.
Eine Gruppe Menschen ist – im Zweifel immer – neurodivers (es sei denn, es befinden sich nur neurotypische Menschen in einem Raum), ein einzelner Mensch ist neurodivergent. Neurodivergenz inkludiert nicht mehr nur Autismus und ADHS, sondern auch alle anderen neurologisch bedingten Phänomene wie z.B. Tourette, Dyslexie, Dyskalkulie und Dyspraxie usw.. Auch trauma- oder krankheitsbedingte neurologische Veränderungen, die sich z.B. als Demenz oder dissoziative Angst- oder Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen manifestieren, werden heute als Teil der Neurodiversität betrachtet.
Das bedeutet nicht, dass diesen vollkommen unterschiedlichen neurologischen Zuständen und ihren Erscheinungsformen die gleichen Ursachen unterstellt werden, Menschen mit diesen Konditionen die gleichen Ausprägungen aufweisen sollen, Auswirkungen, Empfindungen hätten. Der Begriff Neurodiversität oder die individuelle Neurodivergenz bedeutet auch nicht, dass Konditionen nicht Krankheitswert haben oder Behinderung sind (sein können), sondern richtet sich gegen die Annahme, dass jede Abweichung von einer willkürlich festgelegten neurologischen Norm sogenannt gesunder, nicht gestörter – neurotypischer – Gehirne Ungesundheit, Krankheit oder Störung bedeuten muss. Menschliche Gehirne sind in Erscheinung, Funktion und Fähigkeiten divers und lassen sich nicht entlang einer eng gesteckten Norm in richtig/falsch, gesund/krank, normal/gestört kategorisieren. Eine neurologische Kondition, unter der ein Hirn funktioniert, wenn bloß Umstände angepasst, Freiheiten möglich sind, ist nicht das gleiche, wie bspw. irreversible Alterungsprozesse oder entzündliche Erkrankungen, die das Gehirn befallen, bzw. stören, die man heilen, therapieren, bekämpfen kann oder muss, weil Menschen sonst sterben.
Neurodivergenz lässt sich nicht auf einer Skala abbilden, man ist nicht mehr oder weniger, schwächer oder stärker neurodivergent. Es umfasst vielmehr verschiedene Kapazitätsbereiche – Sprache, Wahrnehmung, motorische, sensorische und exekutive Fähigkeiten – deren unterschiedliche Ausprägung sich auf einem Spektrum abbilden lässt.

ADHS ist eine neurologische Kondition. Es findet in dem Organ statt, das alle anderen Organe, alle Gedanken, Handlungen, Fähigkeiten und Gefühle steuert. ADHS bedingt also die Funktionalität des Gehirns und damit sowohl intellektuelle und emotionale/psychische, als auch körperliche/physische Fähigkeiten.
Es ist – wie bei Depressionen – noch nicht eindeutig klar, welche Prozesse anders ablaufen, als sie es (von der Warte eines medizinischen Normals aus) sollen. Es wurde vermutet, dass es chemische Abläufe sind, die fehl laufen, der Gehirnstoffwechsel gestört sei. Analog zur Serotoninwiederaufnahme bei Depressionen sollte es sich bei ADHS um eine Dopaminwiederaufnahmestörung handeln (das ist schon wieder überholt).
Ob jetzt Neurotransmitter anders leiten, Synapsen anders annehmen, welche Ursachen für welche neurologischen Vorgänge auch immer irgendwann eindeutig benannt werden können, es findet im Gehirn statt und das von Geburt an. Weder Impfungen, noch falsches Essen bewirken ADHS (oder Autismus for that matter), nicht zu wenig Vorlesen oder Traumata sind die Ursache, es wird auch nicht am 3. oder 5. Geburtstag plötzlich ein Schalter im Gehirn umgelegt.
Und: wenn ein Kind mit ADHS diagnostiziert wird, sollten sich Eltern der Möglichkeit öffnen, dass ein oder beide Elternteile ebenfalls ADHS haben, weil: it runs in the family.
Die Hunter- and Gatherer-These geht davon aus, dass es ADHS schon gegeben hat, bevor Menschen Jäger*innen und Sammler*innen waren und in diesem Zusammenhang gerade keine Störung war, sondern eine nützliche Varianz, die das Überleben gesichert hat: das heute als Störung des Tag-Nacht-Rhythmus bezeichnete ADHS-Symptom der Verschiebung des circadianen Rhythmus (vormittägliche Müdigkeit und nächtliche Energieschübe/Wachheit) hat gesichert, dass immer jemand die Höhle/ Familie bewachen oder eben auch nachts jagen konnte usw. Der andere Schlaf-Wach-Rhythmus hat den Schutz der Gruppe erhöht, es war also sinnvoll und nützlich, dass Teile einer Gruppe nachts problemlos wach sein konnten und dafür geschlafen wurde, wenn andere problemlos wach sein konnten. Auch die hohe Ablenkbarkeit oder der Hyperfokus sind schon für evolutionär sinnvoll befunden worden. Es wird also davon ausgegangen, dass ADHS heute ein Ergebnis schlechter Anpassung an evolutionären Fortschritt ist, eine Variation, die mal viel Sinn ergeben hat, die in einer industrialisierten, straff organisierten (kapitalistischen) Welt zur kontraproduktiven Fehl-Funktion wurde (wie auch der Energiestoffwechsel noch nicht an postindustrialisiert verminderte körperliche Anstrengung bei gleichzeitig konstanter Zufuhr nährstoffreichen Essens angepasst ist und bei Diäten zur Erlangung wechselnder Schönheitsnormen in Hunger- und Energiesparmodus usw. verfällt, als wäre 1204 post christum natum die Ernte ausgefallen).
Es hält sich hartnäckig die Mär, ADHS würde überdiagnostiziert. Dazu gibt es immer wieder Untersuchungen. Aber es wird auch wieder und wieder festgestellt, dass ADHS unterdiagnostiziert wird, insbesondere in spezifischen demographischen Gruppen. Einerseits wird ADHS bei Frauen allgemein gern übersehen (was Teil des generellen genderbasierten Bias in der Medizin ist), andererseits werden aber besonders Schwarze und asiatisch-stämmige Frauen (ebenfalls entlang rassistischem Bias in der Medizin) unter der allgemeinen Gruppe ‘Frauen’ noch weitgehender übersehen, dementsprechend noch weniger diagnostiziert und vor allem noch weniger unterstützt. Schätzungen schwanken zwischen einem ADHS-Anteil von 2,5-4% oder auch bis zu 15% der Bevölkerung.
Dazu gehört auch, dass ADHS immer noch als ADS bezeichnet wird, wenn die Hyperaktivität nicht von außen sichtbar ist, wenn Menschen sich nicht wie Michel von Lönneberga auf Speed benehmen. Die Diagnose ADS bekommen deshalb vor allem immer wieder Mädchen/Frauen, weil sie nicht exakt die Form der körperlichen, bzw. motorischen Hyperaktivität zeigen, wie sie Jungen/Männern schlicht eher gestattet wird. Dazu gibt es dann häufig die Behauptung, dass sich ADHS (es wird immer so genannt, weil die Hyperaktivität immer da ist, wenn nicht körperlich, dann geistig!) geschlechtsabhängig unterschiedlich präsentiere, Frauen seien eben generell “ruhiger”, deswegen zeige sich das ADHS eben ohne H. Oder in Kurzform: es gäbe weibliche und männliche Formen von ADHS.
Diese kurzsichtigen Bemerkungen zeigen meines Erachtens nur, wie wenig in unserer Gesellschaft immer noch sehr präsente Geschlechterrollen hinterfragt werden. Mädchen sind nicht von Natur aus “ruhiger” – ob jemand ruhig ist, hängt nicht von seinem Geschlecht ab, sondern von seiner Persönlichkeit. Kinder werden allerdings von Geburt an zu bestimmten Verhaltensweisen erzogen, die anhand ihres Geschlechts zugewiesen werden. So wie Jungs noch immer nicht heulen sollen wie Mädchen, sollen Mädchen eben auch nicht auf Bäume klettern und sich schmutzig machen – wie es für die Burschen selbstverständlich angenommen wird (und als weibisch abgestraft wird, wenn es nicht so passiert). Das höchste Gut der Erziehung kleiner Mädchen ist stille und dienstfertige Anpassung, wer wundert sich dann wirklich darüber, dass Mädchen und erwachsene Frauen keine Symptome zeigen, deren Ausdruck ihnen unter Androhung des Identitätsverlusts aberzogen wurden?
Auffällige Kinder (jeden Geschlechts) werden grundsätzlich neben ruhige Mädchen gesetzt, weil Mädchen schon im Grundschulalter die Fürsorge für insbesondere männliche Gleichaltrige aufgenötigt wird. Und das, weil die Behauptung, Menschen weiblichen Geschlechts wären grundsätzlich (natürlich) fürsorglicher und deshalb selbst als Kinder für das Benehmen aller anderen verantwortlich, unhinterfragt übernommen und weitergetragen wird. Es ist also logisch, dass Menschen mit ADHS dementsprechend zwar geschlechtsspezifisch anerzogene Verhaltensweisen zeigen, deswegen gibt es aber keine geschlechtsspezifische Form von ADHS.
Diese ganze Geschlechterzuweisung ist genauso entstanden, wie die Behauptung, dass Frauen keine Jägerinnen gewesen seien, sondern in bloßer Fürsorglichkeit die Höhle und das Feuer gehütet hätten. Die kleinen Hände neben den Höhlenzeichnungen wurden eher männlichen Kindern zugeordnet, als Frauen, weil es von Wissenschaftlern beschrieben wurde, die in einer solchen Welt voller festgesetzten Geschlechterrollen leb(t)en und diese auch vorangegangenen Gesellschaften unterstellt haben. Wie zwei weibliche Skelette mit als Liebesbeigaben identifizierten Objekten lieber als besonders freundliche Herrin und speziell devote Dienerin bezeichnet wurden, statt auf die Idee zu kommen, dass es schon immer gleichgeschlechtliche Beziehungen gab und diese auch nicht immer verpönt, versteckt und diskriminiert wurden. Unter sich hartnäckig haltenden Rollenclichées leiden immer alle, die ihnen nicht entsprechen. “Träumerische” Jungs genauso, wie “wilde” Mädchen.
Am Ende wird – so glaube ich – irgendwann festgestellt werden, dass ADHS eine Variation in einem in etwa gleichbleibend bezifferten Anteil der Bevölkerung ist, ähnlich wie auch alle anderen Variationen, die Menschen z.B. in ihrer körperlichen Disposition, geschlechtlichen Identifikation oder sexuellen Orientierung zeigen – alles unveränderliche Merkmale eines Menschens, alles natürliche Variationen körperlicher Beschaffenheiten, ob es nun zur aktuellen Gesellschaftsnorm passt oder nicht.
(Es ist ein eigenes Thema, dass nahezu jede Variation der (körperlichen/geistigen/psychischen – unsichtbaren oder sichtbaren) Erscheinung als abzuwertende Besonderheit, im Falle von Behinderung, die (lebenserhaltende oder lebensbegleitende) Pflege oder auch nur Rücksichtnahme, noch nicht einmal aktiv inkludierende Teilhabe erfordert, von der Mehrheit der Gesellschaft als Störung empfunden wird; privat oder beruflich Pflegende einerseits bemitleidet oder als selbstlos überhöht und bewundert werden, andererseits die konkrete Arbeit aber als “sozial” gebrandmarkt und dementsprechend schlecht bezahlt wird und was das über diese Gesellschaft aussagt, die schon minimale Abweichung nicht mehr als Teil des Normal betrachtet.)
Ausprägungen von ADHS können massiv stören, es nützt niemandem, wenn ADHS oder auch Autismus mit mißverstandenen Inselbegabungen als Superkräfte oder anderen Wunder-Begriffen romantisiert wird. Es stört – entgegen vielen Diskussionen in ND-Communities – nicht nur eine kapitalistische Verwertbarkeitsökonomie, wenn Menschen keine reguläre Schullaufbahn durchlaufen können oder zumindest nicht erfolgreich entsprechend ihrer intellektuellen Fähigkeiten. (Nicht durchlaufen können schließt hier geistige und körperliche Behinderungen ein, aber auch Sozialverhalten, dass mangels Raum und Zeit für adäquate Anamnese, Wertung und Reaktion pathologisiert wird.) Neben Eltern, Lehrer*innen, Ausbilder*innen (und zum Schluß die sogenannte Wirtschaft), die jeweils auf uniformierte und streng strukturierte Massenbetreuung, Massenunterricht, Massenausbildung und Massenarbeit angewiesen sind, um selbst in ihren Bezügen zu funktioneren, stört es die Selbstwahrnehmung, das Selbstwertgefühl, die Selbstverwirklichung und vor allem die Selbstversorgung der Betroffenen und zieht einen Rattenschwanz an sozialen und finanziellen Folgen nach sich, die sich dann in einer Art perpetuum mobile gegenseitig reproduzieren.
Die reguläre Schulausbildung in unserem Systemen ist natürlich Bestandteil unseres Wirtschafts- und Sozialsystems (und der genannte Rattenschwanz Folge desselben), also ist der Kapitalismus und seine rassistischen, sexistischen, ableistischen, klassistischen und alle anderen diskriminatorischen Prinzipien immer das Grundproblem. Aber auch in anderen Systemen müssen sehr, sehr viele Menschen der Weltbevölkerung in irgendeiner Form betreut, gebildet und versorgt werden, wollen arbeiten, eingebunden sein in Gemeinschaften und selbstwirksam leben. Auch bei regionaler Selbstverwaltung in kleinen Gruppen müssten Menschen mit ADHS dann vom Umfeld berücksichtigt werden, wenn sie bspw. in exekutiv dysfunktionaler Agonie nicht aus dem eigenen Gedankenkarussell heraus kommen oder im Hyperfokus vergessen, sich Nahrungsmittel zu besorgen, geschweige denn diese zuzubereiten.
Auch in den sozialsten und menschlichsten Gesellschaften wäre es für Kinder und Erwachsene mit ADHS de facto störend und in Folge auch behindernd, um die eigenen geistigen/intellektuellen Kapazitäten zu wissen, Aufgaben lösen und sie auch motorisch ausführen zu können, aber nicht in der Lage zu sein, das dann auch tatsächlich zu tun, weil die konditionale exekutive Dysfunktion bedeutet, eine Aufgabe beim besten Wissen und Willen nicht ausführen zu können, wenn der Schalter im Gehirn auf Hermit- oder Waitingmodus steht, die Aufgabe schlicht langweilig, repetativ oder unterfordernd ist, nicht zum eigenen (häufig sehr ausgeprägten) Wertekompass passt oder die ihr zugrundeliegenden Regeln als sinnlos empfunden werden. Selbst dann würde es etwas mit einer Kinderseele machen, dass es zwar zuhören will, an Aktivitäten teilhaben will, aber das eigene Gehirn einfach herauszoomt und kein Wort mehr irgendwo landet, wo es soll, Geräusche zu laut werden, simpelste Anforderungen zu anstrengend erscheinen, andere Menschen zu viel sind, auch wenn man sie gern mag. Duschen zu einer unüberwindbaren Herausforderung wird, weil der Übergang von trocken zu nass bei aller Willensanstrengung (und folgenden Selbstabwertung) nicht zu ertragen ist.
Weil es unfassbar ermüdend und unattraktiv ist, dass man wegen seiner irdischen Hülle permanent sich wiederholende Abläufe ertragen und selbst ausführen muss (sich waschen – schmutzig werden, wach werden – einschlafen, Schlafzeug an- und wieder ausziehen, Nahrung einkaufen, zubereiten, aufnehmen, um sie dann wieder auszuscheiden und alles immer und immer wieder zu wiederholen, unfassbar anstrengend und ermüdend), ohne dass sie je erledigt sind und vergessen werden können.
Die Diskussionen zur eigentlichen Nicht-Behinderung durch ADHS, wenn doch nur die richtige Gesellschaft Betroffene umgäbe, ähnelt denen, die es zu Depressionen und Geld im Kapitalismus gibt. Natürlich begünstigt und verschlechtert finanzielle Not eine Depression, weil es unlösbare Zwänge bedeutet, sozialer Ausschluss in mannigfaltiger Hinsicht gefährlich ist, aber selbst die freie Verfügbarkeit unendlicher Mengen Geld (oder auch die Abwesenheit von Geld als Zahlungsmittel) können eine Depression weder verhindern, noch tiefgreifend heilen. Wer das behauptet, weiß weder was eine echte Depression (im Gegensatz zu depressiven Verstimmungen oder schlechter Laune/schlechter Lebensphase) ist, noch hat der/diejenige je selbst eine gehabt. Und genauso würde auch ADHS nicht von Zauberhand verschwinden, wenn Kinder nicht mehr in Kindergärten und Schulen einer kapitalistischen Verwertungslogik normiert würden. Trotz Willensanstrengung unsteuerbares Versagen macht etwas mit Betroffenen, nicht umsonst ist die Depression die häufigst anzutreffende Folge-Erkrankung, bzw. Komorbidität bei ADHS.
In jeder Version einer Gesellschaftsstruktur werden Menschen mit ADHS durch ihr ADHS gesteuert und im Zweifel behindert. Nur der Umgang damit könnte in anderen Gesellschaftsformen auch ein anderer sein, und in Folge hoffentlich der Umgang der Betroffenen mit sich selbst.
Im bestehenden Gesellschaftskonstrukt könnten wir schon etwas besser machen, wenn wir – solange wir grundsätzliche Infrastruktur und Institutionen nicht einfach ändern können – eine überholte Normierung als solche erkennen und korrigieren.
Es ist menschliches Ansinnen, die Welt und alles, was auf ihr kreucht und fleucht, zu erfassen, zu benennen und zu kategorisieren. Entgegen des wissenschaftlichen Anspruchs, das objektiv oder neutral zu tun, passiert die Kategorisierung und nachfolgende Wertung aber eben nicht entlang dessen, was objektiv gesehen, beobachtet und benannt werden könnte (es stellt sich die Frage, inwiefern das überhaupt möglich ist, weil die Sprache zur Beschreibung schon menschliche Verhandlung von Bedeutungen ist), sondern entlang des Konstrukts, in dem Beobachtende, Benennende und Kategorisierende sich bewegen. Auch Wissenschaftler*innen können im Grunde nicht objektiv sein, weil sie nie vollständig ablegen können, wie sie aufgewachsen sind und geprägt wurden, von wem sie was gelernt haben, aber vor allem weil sie ihre willkürlichen Zugehörigkeiten innerhalb der Gesellschaft nicht einfach ablegen können. Was eine angeblich neutrale Medizin mit Menschen macht, die dem Forschenden- und Forschungs-Default [männlich, weiß, able-bodied] nicht entspricht, dringt erst heute nach und nach ins Bewusstsein einer Allgemeinheit. Nachdem festgestellt wurde, dass crashtestdummies im Schnitt immer zu groß waren, um Frauen durch Gurte zu schützen oder bei Frauen auf ganz andere Symptome geachtet werden müsste, um Herzinfarkte schneller zu erkennen oder auch “morbus mediterraneus” keine Zusammenfassung unklarer Symptome ist, sondern üble Manifestation rassistischer Vorurteile, die kulturell bedingte Verhaltensweisen mit Hypochondrie gleichstellt.
Dass die oben erwähnten Höhlenmalereien von Frauen stammen und das bedeutet, dass Frauen entgegen aller wissenschaftlich-“neutralen” Vermutungen eben doch jagen gegangen sind und es eine heutige Genderrollenverteilung von Aufgaben eben nicht gab, dringt erst nach und nach in derzeit tonangebende Köpfe ein. Und selbst wenn es eindringt, bedeutet es leider immer noch nicht, dass es auch etwas an eingetretenen Denkpfaden ändert. Aber genau das wäre gefragt, um hier und heute etwas für Menschen mit ADHS oder generell neurodivergente – oder tatsächlich alle von Diskriminierung und Ausschluss bedrohten – Menschen besser zu machen.
Nahezu jeder Mensch hat irgendetwas an sich, das heute schon (und bei weiterem Rechtsruck im drohenden Faschismus) zur Qualifizierung der Abwertung und Entmenschlichung werden kann. Und wer entmenschlicht wird, kann seines Lebenswertes, seinem Menschenrecht auf Unversehrtheit nicht mehr sicher sein. Die Liste ist lang, einer falschen Hautfarbe, dem falschen Geschlecht oder der falschen Orientierung folgt auch die körperliche Behinderung, das unwerte Leben psychisch Kranker und so geht es mit den Gründen für Ausschlüsse munter weiter im Hause Darwin und Eugenik.
Was ist normal? Warum benutzen wir das Adjektiv entsprechend einer Norm dazu, endlose Variationen nicht zu bewundern, sondern sie anhand eines angeblichen Nutzen zu begrenzen. Eine Norm dient der Kategorisierung, die bei Dingen viel Sinn ergeben mag, aber wieso sollte man Menschen normieren wollen? Es ist gut, Katalysatoren entlang einer strikten Norm zu konstruieren und ihre Funktion größtmöglicher Sicherheit zu Dienste nur innerhalb eines Normbereichs zu erlauben. Aber was ist gut daran, im Grunde gleiche Maßstäbe an Menschen anzulegen, die in all ihren Einzeleinheiten und ihrer Gesamtheit in unendlichen Variationen geboren werden? Warum Menschen anhand konstruierter Merkmale ein- und ausschließen, als wert oder unwert deklarieren? Derlei Kategorien ergeben nur Sinn, wenn man Böses im Schilde führt. Wie z.B. Dr. Asperger, dessen nach ihm selbst benannte Diagnose Asperger-Autismus Menschen bis heute in funktional und nicht funktional einteilt, nachdem sein wert oder unwert-Urteil anhand ausgedachter Merkmale schon in den 1940er Jahren Kinder in den sicheren Tod des Wiener Spiegelgrunds geschickt hat. Sowohl die Namensgeschichte, als auch das Ansinnen hinter der ursprünglichen Unterscheidung reicht eigentlich aus, die Diagnose so nicht mehr zu stellen, zum Glück wird auch aus rein medizinischer Sicht die Sinnhaftigkeit einer solchen Unterscheidung inzwischen bezweifelt, trotzdem erfolgt die Diagnose auch heute noch (Menschen, die diese Diagnose noch bekommen und sich selbst noch so bezeichnen, sollen das natürlich nach eigenem Ermessen tun, es bleibt aber eine Unterscheidung, die mehr über das sie bestimmende Gesellschaftskonstrukt und ihre Positionierung darin aussagt, als über tatsächliche Fähigkeiten oder Merkmalsverteilung von Autist*innen).
Derzeit leben wir in einem sexistischen, rassistischen, klassistischen, abbleistischen und noch mehr kategorisierbaren Konstrukt, ich kann also nicht anfangen, einfach zu behaupten, die Kategorie Hautfarbe/Ethnie z.B. sei obsolet. Doppelt nicht, weil ich in der privilegierten Gruppe dieser Kategorie stehe. Aufgehoben werden kann sie, wenn Gleichwert besteht und die Zuschreibungen zur nicht privilegierten Gruppe nicht mehr gemacht werden. Gleiches gilt für geschlechtliche Zuordnungen, Klassenzuordnungen usw. Erst wenn trans Frauen ihren Status als Frauen nicht mehr erklären müssen, ihre bloße Existenz nicht mehr zu Diskriminierung, Bedrohung und Ausschluss durch andere führt, kann diese Zuweisung aufgegeben werden, also nicht ich als cis Frau kann sagen: das ist doch Quatsch, das brauchen wir nicht. Es ist meines Erachtens aber finales Ziel meines Bestrebens, dass derlei Kategorien irgendwann ihre Wertbeimessungen und ihre Konnotationen verlieren und wir sie deshalb nicht mehr brauchen.
So wie ich mir eben wünschen würde, dass mein ADHS nicht mehr als Störung oder Krankheit erfasst und mit Clichées umhängt wird, sondern als Kondition hingenommen wird, unter denen mein Gehirn funktioniert. Dass es keine ellenlangen Erklärungen mehr braucht, warum ich “nicht normal” lebe, weil ich nachts arbeite und vormittags schlafe, auch als fast Fünfzigjährige Aufgaben und Anweisungen schriftlich (und bei Möglichkeit klar formuliert) brauche und telefonieren für mich eben nicht “einfacher” ist. Dass es nicht als Faulheit plus zusätzlicher charakterlicher Mängelbescheinigung deklariert wird, dass ich meinen Haushalt nicht nach Heimchenschulausbildung führe, dass es nicht Lustlosigkeit genannt wird, wenn ich in Waiting-Paralyse doomscrolle, bis ich in hektischen Aktivitätsmodus verfalle und in 1 Stunde soviel schaffe, wie andere an einem ganzen Arbeitstag.
Mein Gehirn funktioniert anders, aber es funktioniert unter bestimmten Bedingungen einwandfrei, oft schneller, besser und effektiver, als das anderer unter ihren idealen Bedingungen. Also wäre es super, wenn ich und mein Gehirn nicht entwicklungs- oder verhaltensgestört genannt werde, weil ich zur Verwertbarkeit menschlichen Daseins erfundenen Katgorien von Leistung und Nutzen nicht auf exakt die Weise entspreche, wie es eben nur angeblich normal ist.
Neurodiversity/ neurodivergent
Some basic terms, Neurodiversity is an essential form of human diversity, There is no such thing as a normal brain, Neurodiversity – on the neurological underpinnings of geekdom, Neurodiversity: an insider’s perspective, The biopsychosocial model and neurodiversity, Promoting neurodiversity without perpetuating stereotypes or overlooking the complexity of neurodevelopmental disorders
Genetics/Born with it or developed
Are you born with ADHD?, ADHD Causes, Born with it or getting it?, ADHD, ADHS
Hunter-Gatherer-Thesis
Wikipedia, Genomic Analysis of the natural history of ADHD, Evolution of ADHD, Hunter vs. Farmer, ADHD and the return of the Hunter (inkl. vieler weiterführender Links)
Gender-/Race-Bias
Racial bias in pain assessment, Unconscious Bias and the Diagnosis of Disruptive Behavior Disorders and ADHD in African American and Hispanic Youth, ADHD Parent and Teacher Symptom Ratings, Race Bias and Gender Bias in the diagnosis of psychological disorders, Gender Bias in Diagnosing and Treating ADHD, Lack of understanding in ADHD in Girls and Women
Underdiagnosed & undertreated
ADHD Crisis in the UK, The Underdiagnosis of ADHD in Women of Colour, Why ADHD is underdiagnosed among Asian-American Women, Why Women are underdiagnosed with ADHD, ADHD is underdiagnosed, to varying degrees, among adults of different ethnicities, ages, and education levels in the U.S., Why is ADHD so underdiagnosed in females, ADHD underdiagnosed in Adults, Underdiagnosis of ADHD in Adults, How the Gender Gap leaves Women and Girls undertreated for ADHD
Andere Links
War Hans Asperger ein Nazi?, Hans Asperger, National Socialism, and “race hygiene” in Nazi-era Vienna, Autismusforscher Hans Asperger schickte Kinder in den Tod
