Hybris und Bagatelle

Ein Abend, den fünf Menschen gemeinsam erleben, bedeutet fünf verschiedene Geschichten, die auf fünf verschiedenen Resonanzkörpern beruhen. So irrelevant für den einen das schon vergessene Kleid der Gastgeberin war, so unwichtig ist für die zweite Person der Essensgeruch in der Küche, für den dritten Teilnehmer der Staub im Bad und für die vierte Gestalt, dass der Hund haarte, wohingegen der fünfte Mensch all das wahrgenommen hat und davon so irritiert war, dass er die Gesprächsthemen kaum wahrnehmen konnte.

Resonieren tut in jedem Körper und Geist etwas anderes. Vermutlich ist dafür nicht nur eine situative Gefühlslage entscheidend, sondern auch der zu Grunde liegende Aufbau der physischen und psychischen Gestalt. Wobei es dabei nicht nur um die anatomische Statur, sondern auch die Relation zur eigenen Gestalt geht. Niemand wohnt in einem Körper, ohne in irgendeiner Form eine Bindung zu ihm zu haben, sei es auch Hass, Verachtung oder Verleugnung. Wir begegnen anderen während einer Zusammenkunft nicht nur mit all unserer Vergangenheit, unserer eigenen momentanen Situation, einer mehr oder weniger eindeutigen Gefühlslage und psychischen Verfassung, sondern auch mit einer Haltung und geistigen Vorstellung und komplett unterschiedlichen Hoffnungen und Erwartungen den anderen Teilnehmern gegenüber. Und natürlich auch noch mit einer Beziehung zu uns selbst, bis unter die Hutschnur voll mit angelernten Regeln, die nicht gebrochen gehören, ängstlicher Begutachtung des eigenen Daseins im Vergleich mit dem der anderen oder im besten Fall mit Erwartungsfreiheit, Offenheit, vielleicht versteckter Liebe oder sorgsam gehütetem Hass, ehrlicher Fürsorge oder offener Mißachtung.
So wundert es natürlich nicht, dass eben diese 5 Menschen, die alle unterschiedliche Sinneseindrücke als signifikant beschreiben würden, auch alle in jeder anderen Einzelheit ihrer Leben andere Prioritäten und Nichtigkeiten besetzen.

Kommunikation gelingt deshalb sicherlich tatsächlich nur, weil trotz all der Individualität immer eine Bedingung von allen Interagierenden akzeptiert wird, nämlich die, kommunizieren zu wollen. Wir sind letztendlich alle Teile derselben Herde. Soziale Wesen.
Auf Grund einer so dünnen gemeinsamen Basis zu positiven Ereignissen kommen zu wollen, erscheint vermessen. Und erklärt vielleicht auch die unterschiedlichen Folgen von Kommunikation: einer fühlt sich gesehen, der zweite verstanden, der dritte übergangen, der vierte fühlt nur mit, der fünfte kann sich wegen zu vieler Informationen nicht konzentrieren.

So wenig es also verwundert, wenn Kommunikation zu Mißverständnissen führt — obwohl man gerade die vermeiden will und deshalb miteinander spricht- so sehr verwundert mich, wenn der Ansatz der Kommunikation — also der grundsätzliche Wille, zu kommunizieren- einer ist, der das Gegenüber abwertet, verletzt, herabwürdigt, beleidigt oder übergeht.
Mir ist klar, dass Kommunikation ein weites Feld ist und Streit, Diskussion und Zwist dazu gehören. Aber von diesen Fällen spreche ich nicht. Auch nicht von allerlei Alltagsgeschichten, Arbeitsgesprächen oder hierarchischen Anordnungen.

Mich wundert es, wieder und wieder, wenn Menschen sich privat unterhalten und einer von sich erzählt, sich ein Stück weit preis gibt, sich nackich macht, sich offenbart und sei es auch noch so lapidar und unerheblich für die allgemeine Weltlage, und andere dann abwertend oder entwürdigend reagieren.
Denn das ist für mich eine Unterhaltung. Zwei oder mehr Menschen geben etwas von sich preis, offenbaren sich, malen ihre Farben an weiße Leinwände. Mit Sprache verleiht man seiner Persönlichkeit ein Bild, man zeichnet seine psychische und emotionale Anwesenheit in Farben, die einem angemessen erscheinen. Zu Beginn einer Bekanntschaft vielleicht nur pastellfarben und mit grobem Strich, aber mit jedem Wort, dass man aus seinem Mund entlässt, malt man seine Persönlichkeit an die Wand. Man gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, sich zu sehen, zu begreifen, zu erfassen.

Wenn mir also mein Gegenüber von albernen, kleinlichen Sorgen erzählt, dann ist das ein Teil seiner Gedankenwelt und diese manifestiert sich in der Sprache. Das Subjekt dieses Teils des Gegenübers kann ich für mich und meinen Kosmos unwichtig finden oder nicht wirklich nachvollziehen können, natürlich, aber weil es für den anderen offenbar wichtig genug ist, in Worte gefasst zu werden, also ein Teil des anderen ist, mit dem ich ja kommunizieren WILL, ist es für mich unerheblich, wie lächerlich mir etwas erscheint, weil es in meinem Gedankenuniversum bisher keinen Platz hatte.
Ich nehme das dann so hin und versuche, darauf zu reagieren. Also mich dem irgendwie anzunehmen. Das muss nicht zwangsläufig die richtige Reaktion sein und ich will damit keinesfalls sagen, dass nicht jeder auf seine Art reagieren kann und soll.

Aber was ich einfach nicht verstehe, sind Reaktionen, die dem Erzählenden das Gefühl geben, es sei lächerlich, was er erzählt. Es sei nicht der Rede wert, verdiene keine ernsthafte Beurteilung, sei doch in der Tat ganz einfach zu lösen/ zu ignorieren/ zu verkraften und dergleichen.
Ist es nicht komplett unwichtig, was die Gedanken eines anderes für mich bedeuten, wie ich sie werte, solange sie mich nicht betreffen? Und kann ich nicht dem anderen soviel Würde angedeihen lassen, ihm seine Gedanken und seine Worte und damit diesem Mikroteil seiner Gestalt zuzugestehen, ohne ihm meine Wertung und die eigene (vermeintliche) Überlegenheit überzustülpen?

Selbst wenn das Gegenüber -meines (!) Erachtens- zu viel Gedanken, Zeit und Energie aufwendet, um sich mit etwas ‘Unwichtigen’ zu befassen und es in wörtliche Form zu bringen, so ist es doch offenbar etwas, womit es sich eben genau auseinandersetzen will und vielleicht muss, so wenig wichtig ICH das auch finden mag.
Was hat das Gegenüber davon, wenn ich lapidar und bagatellisierend antworte, das sei doch alles ganz easy und vor allem nicht der Rede wert. Oder es läge doch auf der Hand, was zu tun sei. Oder es sei lächerlich, darüber nachzudenken. Oder es bedeute doch gar nichts. Oder es “bringe” doch gar nichts, darüber nachzudenken…
Natürlich darf/ kann/ soll man sagen, dass man mit etwas nichts anfangen kann oder man schlicht keine Antwort weiß. (Mal abgesehen davon, wie oft tatsächlich eine Antwort erforderlich ist.)

Aber das Geschenk von Vertrauen -sei es auch noch so klein und unscheinbar- verdient doch immer eine Würdigung durch Ernsthaftigkeit. Oder?
Jeder hat kleine aschfahle, unscheinbare und in seiner Unwichtigkeit blasse Gedanken, Bedenken und Verwirbelungen im Kopf. Niemand denkt und sagt nur wichtiges, staatstragendes oder für die Allgemeinheit informatives. Und manchmal will all das kleine schäbige, alberne, peinliche und spießige Gedachte ans Tageslicht und muss in Silben gefasst werden, die einem ohnehin schon oft genug unangenehm sind, wenn man sie selbst laut hört.

Was kostet es, den anderen auf Augenhöhe anzusehen und ihm seine Würde zu lassen, indem man ihm einräumt, dass seine klitzekleinen, nicht glitzernden und nicht nobelpreisverdächtigen Gedankenfetzen genau die gleiche Wertigkeit und Portion Tageslicht verdient haben, wie unsere eigenen?