Das einzig Beständige

Es gibt so kleine Phänomene, die ich persönlich spannend finde, zu denen ich mich stundenlang in Grübeleien begeben kann. Auslöser heute: Groß- und Kleinschreibung im Deutschen und dazu geäußerte Irritation, wenn nur klein geschrieben wird.

Menschen werden nicht in ein Vakuum geboren, sondern in bestehende Konstrukte. Innerhalb dieser gibt es Regeln, Normen und dasmachtmansos. Babys imitieren, was ihnen vorgelebt wird, Kinder lernen, was man ihnen beibringt und vorlebt. In meiner Welt war das z.B.: Väter sind den ganzen Tag abwesend, weil sie arbeiten – Mütter sind den ganzen Tag anwesend oder tun Mütterdinge; wo Mütter arbeiten müssen, gibt es bedauernswerte Schlüsselkinder; alle Wände sind voll Bücher; es gibt zwei Autos und Golf ist ein normales Hobby; boys will be boys und für häusliche Ordnung gibt es Haushaltshilfen.

Bei dieser gesetzten Umgebung war auch die Schulumgebung vorherbestimmt und der Glaube, es ist bei allen, wie bei mir, bzw. bei uns zu Hause. In den meisten Fällen war das wohl auch so, aber ich habe schon immer zielfreudig die Fälle in meiner Umgebung gefunden, in denen es nicht so war. Die Kinder, die nicht in den richtigen Häusern in den richtigen Vierteln gewohnt haben. Die Kinder, die nicht gelesen haben, weil sie auf ihre Geschwister schauen oder für Eltern übersetzen mussten. Die Kinder, die nicht adrett gekleidet waren, weil es in den 80/90ern keine günstige Alternative gab und die Klamotten bei C&A waren scheußlich.
Ich wurde ernsthaft und vollkommen ungeniert gefragt, warum mein erster Freund unbedingt ein Pole aus der Nordstadt sein muss, es gäbe doch so nette Jungs im Golfclub.

Um mal den Bogen zum Auslöser zu beginnen: trotz vieler selbstverständlicher spezifischer Normen und Regeln und Gesetztheiten während meines Aufwachsens hatte ich noch nie das Bedürfnis, diese auf Teufel-komm-raus zu verteidigen und ich frage mich, warum das so ist. Egal, ob es um rassistische, um exkludierende Sprache oder um Regeln für sozialen Umgang ging, ich habe noch nie gedacht: so wie ich das kenne, ist das einzig richtige und so muss es bleiben, das verteidige ich auf’s Blut.

Ich erlebe das so oft und ich glaube, es ist normal, dass man das, was man von Geburt an eingeimpft bekommt, für richtig und unumstößlich hält, dann eventuell kurz stockt, wenn es geändert wird oder sich verändert. Aber wieso wird aus einem initialen Stocken in so vielen Bereichen eine Diskussion, die ich persönlich gar nicht sehe. Als ich das erste Mal meine Freundin habe weinen sehen, weil sie neben mir in der Bahn rassistisch beschimpft wurde, habe ich keinen Impuls gespürt, zu diskutieren, ob das N-Wort vielleicht doch nicht so schlimm ist. Wenn eine Person mir sagt, sie sieht sich nicht in meinen Texten, dann diskutiere ich eher nicht, warum es ok ist, dass sie noch nie gesehen wurde und ich das so weitermachen werde.

Ich mache Fehler, vergesse immer mal wieder dies und jenes, aber ich diskutiere das eher nicht. Wenn ich etwas erfahre, was ich nicht wusste, dann finde ich das meistens spannend, habe viele Fragen, mache mir darüber Gedanken, warum ich das nicht wusste, ob meine Fragen dazu eventuell peinlich, naiv, verletzend waren, schäme mich für die aufgedeckte Ignoranz. Das gilt für sehr viele Lebensbereiche.

Ich bin nicht behindert, also was Barrierefreiheit bedeutet, weiß ich nicht aus mir selbst heraus, ich muss mir das von anderen erklären lassen. Ich bin weiß, was Rassismus mit einem macht, oder wie der internalisiert wird, weiß ich nicht aus eigener Erfahrung, ich muss mir das von jemandem erklären lassen – wenn es nicht zu fies ist- oder mich einfühlen. Ich bin reich aufgewachsen, was Armut ist, weiß ich erst jetzt, seitdem ich mich von meiner Familie losgesagt, mich vom Vater meines Sohnes getrennt habe und dann wegen schwerer Depression nicht mehr normal arbeiten gehen konnte. In meinem Umfeld waren against all odds alle verheiratet, was Glück oder echte Freude in Beziehungen ist, dass eine Beziehung nicht ‘aushalten müssen’ bedeuten und im Zweifel aufgelöst werden darf (muss), habe ich erst gelernt, als es so kam.
Dass Alleinerziehung möglich ist, aber strukturell bedingt katastrophal wenig Spaß macht, musste ich lernen. Egal, welches Thema wir uns vornehmen, im Laufe meines Lebens ist kein Stein auf seinem vorgelebten, gesetzten Platz geblieben. Ich bin so dermaßen privilegiert, finanziell sicher und unerhört abgehoben aufgewachsen, ich lebe aber jetzt als alleinerziehende Aufstockerin ohne Familie, ohne Sicherheit, ohne Polster, ohne Rückhalt – nichts ist so, wie es vorgegeben war.

Der Auslöser dieser Gedankenwelle war eine einfache Frage zu Groß- und Kleinschreibung und das Erstaunen über eine darüber länger schon bestehende Diskussion in Germanistikkreisen. Weil das, was man immer schon kennt, was man für normal und richtig hält, eben nicht immer das ist. Weil es schon so viele Infragestellungen gibt, weil eigentlich alles in Frage gestellt gehört, weil unsere Gesellschaft kein starres Konstrukt ist, weil es so viel Änderung gibt, die mit bloßer Wahrnehmung gar keine Hickups verursachen müssten, weil wir Dank relativ friedlichen Zeiten endlich Raum und Gedanken für diese Dinge haben, weil jedes Fitzel Wissen und Erfahrung schön und spannend ist, habe ich darüber nachgedacht.

Liegt es vielleicht daran, dass ich schon soviel sicher Geglaubtes habe zerbrechen sehen, den Schmutz hinter glänzender Fassade, soviel habe verloren gehen sehen, dass ich sehr viele Dinge erstmal hinnehme und sie laufend integriere und andere das nicht kennen oder können? Ich habe schon so oft gedacht, es wäre gut, wenn Gäste mal als Kellner arbeiten, Werkstattleiter mal Kunden, Ärzte mal Patienten sein müssten. Man müsste alle Erfahrungen immer von zwei Seiten machen können, damit man weiß, wo der andere steht und man dann nicht mehr über Gendersternchen, generisches Maskulinum, Groß- und Kleinschreibung, 9€ Hartz4-Zugabe, N-Wort oder türkische Vornamen usw. diskutieren müsste.

Man würde hören und fühlen, was dem anderen fehlt, ihn verletzt, ihn kaputt macht und ausgrenzt, Armut verstehen, Beschämung und Leid fühlen. Dann könnten wir diese Sachen ändern und verstehen, dass die Aufgabe einiger weniger und unerhört ungerechter Privilegien gar nicht so unvorstellbar ist.

Im Englischen wird fast immer alles klein geschrieben. In vielen Sprachen erfolgt wenig Genderzuweisung oder sie erfolgt ganz anders, als im Deutschen und die Leute sprechen und kommunizieren miteinander, ohne dass ihre gesamte Kultur am Boden liegt.

In der Sprache manifestiert sich eine Weltsicht. Und die ändert sich permanent.
Wenn man die Augen offen hält.

Dieser Beitrag ist zuerst auf Twitter erschienen und wurde der besseren Lesbarkeit zu Liebe redigiert.