Als ich ungefähr 25 war, ist mir aufgefallen, dass ich immer wiederkehrend ein bestimmtes Verhalten an den Tag lege:
Ich verabschiede mich immer, als könnte es kein morgen geben. Selbst wenn ich jemanden nur kurz oder spontan treffe, aber auch wenn ich jemanden sehr regelmäßig treffe, musste sich ordentlich verabschiedet werden. Wenn ich mich mit meinem Kind streite, muss ich mich auch heute noch spätestens vor dem Schlafengehen mit ihm vertragen, weil ich sonst nicht schlafen kann. Ich denke, das kommt vom frühen Tod meiner Mutter, von der ich mich nicht verabschieden konnte. [Edit: Es kann auch an ADHS liegen, wie ich seit 2022 weiß.]
Inzwischen kann ich mich von Parties wegschleichen und einen heimlichen Abgang hinlegen, weil es dort selten etwas gibt, was noch gesagt werden oder ernstgenommen werden müsste.
Außerdem habe ich mit den mir wirklich nahen Menschen eine Art Dauerstatus essentieller Gefühlslagen etabliert, der absolute Klarheit und Offenheit bedeutet und einer sprachlichen Ausführung nur nach grundlegenden Veränderungen bedarf. Die Möglichkeit, sich eventuell nie mehr wieder zu sehen, ist mir in jede Faser meines Körpers eingebrannt. Die Vergänglichkeit von Allem ist mir zu jeder Zeit meines Lebens bewusst. Deshalb leide ich sehr darunter, wenn ich das Gefühl habe, ich könnte nicht alles gesagt haben, was es zu jemandem zu sagen geben könnte. Noch schlimmer wird es, wenn ich das Gefühl habe, missverstanden worden zu sein. In Kombination mit ebenso offenen Fragen an den anderen oder dem Gefühl, noch gar nicht die Gelegenheit gehabt zu haben, ein Gegenüber wirklich erlebt und erfasst zu haben (aber wieder und wieder zu erahnen, es gäbe Schätze zu heben!), steigert sich das innere Elend noch weiter.
Aber am schlimmsten wird es, wenn mein Gegenüber mir einen Abschied schlicht verweigert. Mir keine Fragen erlaubt, es also zu Antworten gar nicht kommen kann. Mir keinen Abschluss ermöglicht.
Als ich meine erste wirklich lange Beziehung beendet habe, hatte ich Millionen Fragen an den Anderen. Derjenige hat mich daraufhin gefragt, warum ich um ehrliche Antworten auf meine expliziten Fragen bitte, die mir zweifelsfrei weh tun würden. Das ist ganz einfach erklärt:
Keine Antwort, keine Begründung, keine Aussage eines anderen kann schlimmer sein, als das Gedankenkarusell, das sich in meinem Kopf dreht. Kein Vorwurf, keine Kritik und keine Beleidigung ist schmerzhafter, als die Möglichkeiten, die ich in meinem Schädel durchkaue.
Das dazu passende Bild ist die Wunde, die ich solange wieder aufkratze und auswasche, bis sie sauber ist und kein Eiter, keine Entzündung und keine Irritation mehr vorhanden ist, egal wie schmerzhaft das sein mag. Dann kann sie narbenlos abheilen. Es gibt Wunden, die ohnehin nur oberflächlich sind und dank eines guten Heilpotentials komplett unsichtbar verheilen. Aber es gibt Verletzungen, die sich entzünden, auch wenn das Verursachende nur ein Kiesel im Schuh war. Und eine kleine Wunde muss genauso gereinigt und gepflegt werden, wie eine große. So unwichtig das Verursachenden erscheinen mag.
Als wir uns nach langer Zeit das erste Mal getroffen haben, war es für mich zwar unfassbar aufregend, aber gleichzeitig sehr vertraut. Ich kann nur für mich sprechen, weil ich es von Dir nicht weiß, aber es fühlte sich so an, als ginge es Dir genauso. Ich bin in Dein Auto gestiegen und habe gesagt: „erzähl’!“ und Du hast einfach erzählt. Da war kein Unwohlsein oder Peinlichkeit, kein Zurückhalten.
Ich denke natürlich nicht, dass Du mir in den ersten 12 Stunden viel erzählt hast, was nicht auch jeder andere von Dir weiß. Ins Stocken geraten bist Du trotzdem, wenn ich Dir Fragen gestellt habe, die Du nicht erwartet hast. Das Stocken beinhaltete einen sehr irritierten Seitenblick, ein Innehalten und dann eine leisere Antwort. Du bist zwar jedes Mal schnell wieder in einen Gesprächsfluss gekommen, aber Irritationen waren trotzdem offensichtlich und beeindruckt haben mich die ad-hoc-Reflektionen zu den ansonsten so nahtlos ineinander gepflegten und unberührbaren, glatt geschliffenen Geschichten, Haltungen und Positionen sehen lassen. Dann gab es ein paar Klitzekleinigkeiten, von denen ich glaube, dass Du sie nicht mit jedem teilst, aber auch das weiß ich nicht mit Sicherheit. Hüten tue ich sie trotzdem, wie einen heimlichen Schatz.
Du warst zu Beginn unseres kleinen Tanzes sehr offen. Es gab zwar viel – Dir eigene – Conténance und Haltung, aber auch viel plötzliches Gelächter, eine große Portion jungenhaften Charme und viele unwillkürliche Seitenblicke, die ungewollt Dein ganzes Gesicht haben sehr schön entgleisen lassen. Das war richtig gut. Und es gab tatsächlich wieder und wieder Gesprächsstoff, in dem Du Dich preis gegeben hast –auch wenn das nicht bewusst geschehen ist- und auf meine Fragen oder Einwürfe reagiert hast. Körperlich und in Deinen Antworten. Ich mochte das. So sehr.
Vielleicht habe ich mich schon ein bißchen in Dich verknallt, als ich das eine Mal raus musste und mich nochmal umgedreht habe, um mein Telefon zu holen. Auch wenn ich da schon wusste, dass das Quatsch ist, es zu nichts führt und Du in intakter Ehe und festem Konstrukt lebst. Du standst verschlafen einfach mitten in diesem morgengrauen Raum, hast gefroren und sahst sehr jung und sehr verletzlich aus. Sehr echt.
Du hast mich nicht spontan mitgenommen. Du hast vielleicht die initiale Einladung spontan ausgesprochen, aber danach hattest Du mehrere Tage Zeit, Dich umzuentscheiden, etwas anderes vorzuschlagen oder abzusagen. Hast Du aber nicht. Niemand hat Dich gezwungen. Und Du hättest im Grunde auch jederzeit abbrechen können. Hast Du aber nicht. Während der ersten 24 Stunden hattest Du einen Moment, in dem Du gesagt hast, Du weißt, dass Dein Verhalten gerade nicht ganz astrein ist. Oder, dass „man das nicht macht“. Aber Du hast es gemacht. Auch danach. Immer wieder. Ganz bewusst und nüchtern. Und es hat sich fantastisch angefühlt. Du bist auch zu mir gekommen. Freiwillig, nüchtern und ohne Zwang.
Und dann ist irgendwas passiert, warum Du Dich von einen auf den anderen Moment zurückgezogen hast und mich hast im Regen stehen lassen. Schon bevor ich Dir des Nachts die vermaledeite Nachricht geschrieben habe, in der ich mich wieder verzweifelt aufgeregt habe, dass Du nicht in der Lage bist, mir einfach nur kurz zu sagen, dass Du keine Zeit hast. In der ich mich leider auch zu sehr offenbart habe.
Ja, im Regen hast stehen lassen. Was man sich – wie unwichtig auch immer – vertraut macht, dafür ist man verantwortlich. Und wenn es nur die Verantwortung der erhaltenen Würde durch korrektes Verhalten ist. Was man zu zweit beginnt, führt man auch zu zweit fort oder beendet es zu zweit – für beide klar und ausgesprochen. Es kann nicht einer weiter tanzen, wenn der andere abrupt den Walzersaal verlässt.
Ich weiß nicht, was in Dir vorgegangen ist, weil Du es mir nicht gesagt hast, nicht sagen wolltest oder konntest. Trotzdem ich Dich wieder und wieder damit genervt habe, Dir Fragen zu stellen oder Dir ewige Nachrichteneloge zu schicken, weil ich nicht verstanden habe oder hellsehen konnte, warum Du Dich wie verhältst. Du hast mir jede Chance verweigert, Dich zu erkennen. Sätze, die Du gesagt hast, haben nicht zu dem gepasst, wie Du Dich verhalten hast, ich habe aber auf sie vertraut. Sprache ist für mich nicht nur Worte in ein Vakuum gespuckt. Worte, Sätze und Mitteilungen haben den gleichen Wert und eventuell Konsequenzen, wie Handlungen und Taten. Ich habe weiter und weiter gefragt, obwohl ich nichts weniger wollte, als Dich zu nerven. Aber ich dachte, an irgendeinem Punkt müsstest Du doch selbst eine belastbare Aussage treffen wollen und wenn es nur dazu verholfen hätte, dass ich aufhöre zu fragen. Was ich wollte, gefühlt und gedacht habe, lag ja offen auf dem Tisch. In meinen Augen hattest Du eine Form von Kontrolle darüber, denn eine irgendwie geartete Ansage hätte mir gesagt, was in Dir vorgeht. Deine Gefühlslage, Deine Wünsche sollten mir sagen, ob Du überhaupt kontaktiert werden willst. In einer Interaktion ist man nicht alleine und handelt nicht in luftleerem Raum.
Einiges habe ich dann durch das immer mal wieder kurze reale Erleben besser verstanden, als durch Deine zum Teil kryptischen kurz-dahingeschriebenen Antworten. Du hast mich tatsächlich von Angesicht zu Angesicht allerlei Sachen gefragt, die ich Dir schon vorher hätte schreiben und erzählen wollen. Also wusste ich, Du bist so jemand, der nicht nur nicht gerne schreibt, sondern tatsächlich nur real in einen Austausch treten kann. Es hätte vielleicht geholfen, zu telefonieren, ich weiß es nicht. Ich konnte Freude –oder zumindest Dein Grinsen- durch den Äther hören. Weißt Du, wie ungut es ist, das Gefühl zu haben, es sprühen Funken wenn man sich sieht, aber das Gegenüber verhindert jede weitere Möglichkeit zur Zündung? Ohne zu verstehen, warum?
Mehrfach habe ich erlebt, wie Du in einem Moment ganz bloß warst und in der nächsten Sekunde eine angelernte Reaktion das Ruder übernommen hat, die Maske wieder hochgezogen hat, obwohl es doch längst sinnlos war: „Ach, ich war doch nur betrunken.“ Ja. Genau. Und: „Männer sagen manchmal Sachen einfach so. Ohne sich dabei was zu denken.“ Weißt Du nicht, dass gerade die unbewussten Aussprüche und Handlungen etwas darüber sagen, wer Du bist? Wie Du fühlst?
Du hast Dich irgendwann mehr und mehr verschlossen und keine Interaktion mehr begonnen. Natürlich wusste ich, dass das etwas zu bedeuten hat (und vermutlich hast Du gehofft, dass diese nonverbale Botschaft ankommt), aber ich habe trotzdem versucht, von Dir dazu eine Aussage zu bekommen. Erfolgslos. Und dann hast Du sogar das Antworten begonnen zu dosieren. Und schließlich eingestellt. Was für ein Krampf. Dein Hinweis, dass Du einfach nur da sitzen, nichts denken, alles ausblenden und Dich auf eine einzige Sache konzentrieren kannst, ist mir erst viel zu spät wieder eingefallen.
Genau das hast Du mit mir gemacht, ’ne? Mich von jetzt auf gleich auf stumm geschaltet? Du kannst so etwas und hältst das gut aus, oder? Du kannst vermutlich ganze Teile Deines Denkens und Fühlens einfach stilllegen, wenn es dem Erhalt eines Konstrukts dient. Wie auch immer das Konstrukt beschaffen ist und so porös es in sich sein mag, es muss um jeden Preis erhalten werden, weil alles andere unvorstellbar ist.
Ist das Angst vor der Angst? Angst davor, irgendwas tatsächlich zu spüren? Davor, dass es weh tun könnte? Wahrscheinlich verdrängst Du alles Störende so weit, bis es komplett aus Deinem Sichtfeld verschwunden ist. Wenn dabei halt nicht Scheuklappen zum Einsatz kommen müssten, die zwangsläufig auch Wichtiges verbergen.
Weißt Du, was ich nicht verstehe?
Du bist ein grundsätzlich gerader Mensch, Du versuchst immer, Dich korrekt zu verhalten. Du hältst Dich freiwillig an allerlei Regeln und Normen und weder wagst Du es, diese in Frage zu stellen, geschweige denn sie in anzutasten. Sie gelten einfach und das nimmst Du so hin und passt Dich dem an. Ob nun aus Bequemlichkeit, Feigheit oder Angst… weiß ich nicht. Leider gelten die aber eben auch dann so, wenn Du Dich in unsicheren Gewässern bewegst und es um richtiges Handeln im Falschen geht. Auch innerhalb eines übergeordnet unmoralischen Agierens, kannst Du Beteiligte fair behandeln.
Aber… warum hast Du Dich überhaupt mit mir getroffen?
Es ist ja nicht so, dass nicht vorher klar war, auf was das hinauslaufen würde. Und es ist auch nicht so, dass Du nicht selbst aktiv darauf zugesteuert wärest. Gab es einen Moment, in dem Du plötzlich mutig warst und für einen Wimpernschlag etwas Verrücktes, für Dich Unerwartetes tun wolltest? Oder war das nur ein kurzes Aufflackern einer banalen midlife-crisis? Wolltest Du Dir etwas beweisen? Oder wolltest Du es und hast dann doch Angst bekommen vor der eigenen Courage? Hast Du eine Klitzekleinigkeit gefühlt und bist davor erschrocken? Es darf nicht sein, was nicht sein darf?
Ich weiß, dass diese Geschichte in Deinen oder anderer Menschen Augen vielleicht nicht die Hälfte meiner Gedanken und Auseinandersetzung wert ist. Aber ich kann Dinge, die mich berühren, erst loslassen, wenn ich das Gefühl habe, sie verstanden zu haben. Egal, wie klein sie sind. Und ich verstehe weder Dein erst definitiv vorhandenes Interesse, Deine Zugewandtheit und Deine zum Teil massive Niedlichkeit, noch die plötzliche Abkehr, noch die (zum Schluß erzwungene) Erklärung Du ließest einfach sein, was Dir ein schlechtes Gewissen macht, Dich unwohl fühlen lässt. Dieses Unwohlsein ist doch nicht von einen Moment auf den anderen entstanden? Und wieso glaubst Du, mir das nicht mitteilen zu müssen, wenn es doch reale Auswirkungen auf mich hat? Wieso glaubst Du, mich einfach stillschweigend zu ignorieren wäre die richtige Art, damit umzugehen? Gerade Du gerader Mensch?
Wenn mich etwas juckt, dann muss ich es so lange untersuchen und kratzen, bis es wieder aufhört, mich zu stören. Mein angreifbarer Gußeisenboden zerkratzt wieder und wieder und ich scheuere ihn dann so lange, bis ich wieder damit arbeiten kann. Ich kann nicht Gefühle unterdrücken und ausblenden und dann wirklich glauben, sie wären nicht da. Das kostet eine Menge an Selbstbetrug, die ich nicht aufbringen kann, auch wenn es in manchen Fällen sicher mehr als hilfreich wäre und ich manchmal andere darum beneide. Das muss natürlich niemand so machen und niemand muss das gut finden. Wenn Dich etwas juckt, blendest Du es aus und versuchst, es zu verdrängen, bzw. die Tatsache des versehrten Teflonbodens Deinem (Un-)Willen (der Wahrnehmung) unterzuordnen. So als würde das Teflon intakt, bzw. zumindest intakt aussehen, nur weil Du die zerkratzten Stellen nicht mehr ansiehst. So als würde Dein Empfinden, Begehren, Fühlen adäquater oder verschwinden, weil Du verweigerst, es wahrzunehmen, bzw. es nicht in Verhalten umwandelst.
Da ist es trotzdem. Auch wenn Du es verdrängst. Natürlich kannst Du das für Dich so handhaben, wenn Du das richtig findest. Nur in dem Moment, in dem es andere berührt, ist es nicht mehr nur Deine Geschichte!
Es tut mir leid, dass ich Dich im Zweifel bedrängt habe, nicht aufgehört habe, zu fragen, was Du wie tust und warum. Es tut mir leid, Dich damit vermutlich genervt zu haben. Es ist aus reinem, echtem und purem Interesse an Dir entstanden. Jetzt versuche ich immer noch, herauszufinden, was passiert ist, warum Du mir weder meine Fragen zu Dir beantworten konntest, noch warum Du nicht einmal gesagt hast, dass Du es schlicht nicht willst. Nur eben ohne es in Nachrichten an Dich zu schreiben. Was ungleich schwieriger ist.
In meinen Augen bist Du ein feiner Mensch. Wert jedes Wort und jeden Gedanken. Das habe ich Dir schon viel zu oft gesagt. Aber entweder weißt Du es nicht oder Du wertschätzt Dich selbst nicht, zumindest unterdrückst Du alles, was nicht glattgeschliffen und gefällig ist. Das ist zwar traurig, aber das kann niemand ändern, außer Dir selbst.
Weil ich sehr viel Schönes habe aufblitzen sehen, beschäftigt mich diese klitzekleine und vermutlich für unsere Gesamtleben –vielleicht oder vielleicht nicht- unerhebliche Geschichte sehr. Und das eben, bis ich verstanden habe (oder hinnehmen kann), was warum geschehen ist, obwohl die Geschichte in ihrer Zartheit und ihrem Glitzern sehr viel Freude und Wärme und Feines versprochen hat.
Salut, Verehrtester.
Mein lieber General Teflon
