Unberechenbarkeit

Reglos habe ich Stunde um Stunde meiner ersten zwanzig Lebensjahre auf der Ecke meines Bettes gesessen, so nah wie möglich an der Tür. Lauschend.

Wo hält sie sich auf, war das ein Schritt? Ah, sie geht in die Küche. Waren das Geräusche im Treppenhaus? Kommt da „wer“ die Treppe hoch?

Aus der Starre konnte ich bei Verdacht blitzschnell und lautlos zu meinem Schreibtischstuhl springen, um dort das Erledigen der Hausaufgaben vorzutäuschen. Bewegten sich die Schritte auf der oberen Etage -wo sich auch mein Kinderzimmer befand- verfiel ich auf dem Stuhl am Fenster in die gleiche Starre, wie auf der Ecke des Bettes. Hab-Acht-Stellung. Die Möglichkeit erwartend, dass die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen würde und ich entweder zu irgendeiner Aufgabe herbeigerufen würde oder sich eventuell etwas gefunden hatte, was ich falsch gemacht hatte und wofür ich angeschrieen und geohrfeigt gehörte.

Trotz aller Konzentration und dem Versuch, zu orten, wohin die Schritte unterwegs waren, konnte ich nie das Zusammenzucken verhindern, wenn die Tür schließlich wirklich aufgestossen wurde. Weder die Konzentration, noch das intensive Durchdenken aller möglichen Szenarien der Welt konnte mich jemals genug vorbereiten.

Mit dem gleichen unguten Gefühl im Magen, mit dem ich auf der Kante meines Bettes saß, stieg ich jeden Schultag aus der Straßenbahn aus. Von der Haltestelle ging es über eine Brücke, dann ca. 250m an einem großen Versicherungsgebäude entlang, an dessen Ecke es zu uns in die Straße ging. Von der Ecke aus waren es noch ca. 150m bis zu unserem Haus. Den gesamten Weg von der Haltestelle zur Haustür war mir speiübel, ich hatte schweißfeuchte Handflächen und meine Knie fühlten sich an wie Gummi.

Dieses Gefühl begleitet mich bis heute. Nicht so sehr die feuchten Handinnenflächen und auch nicht die schlotterigen Knie, sondern das stechende, beißende, dumpfe, schmerzhafte Grummeln im Magen. Es meldet sich immer dann, wenn ich mir Sorgen mache, um jemanden Angst habe oder als böse Vorahnung, wenn etwas schief zu laufen scheint.

Schreckhaft bin ich auch bis heute. Inklusive des sehr heißen Adrenalinstoßes durch den ganzen Körper, der sich vom Kopf aus in die Arme und Beine blitzt und im Kopf explodierend entlädt. Je nach Situation verfalle ich in sekundenlange Schreckstarre oder gerate in ein Gefühl von unfassbarer Klarheit und Gedankenrasen. Vermutlich entscheidet da die Situation das Ausschlagen in fight or flight.
Auslöser dieses Gefühls im Magen und der Geduldsleistung, über Stunden starr auf einem Fleck zu verharren und auch trotz des dringenden Verlangens, sich zu übergeben, weiter zu trotten, den Schlüssel dann ins Schloß zu stecken und sich damit täglich einer schweißtreibenden Angst zu stellen, ist Unberechenbarkeit.

Meine Kindheit und Jugend waren geprägt durch totale Unberechenbarkeit der wichtigsten Bezugspersonen.
Ich wusste nie, was mich erwartet, es hat nichts gegeben, auf das ich mich verlassen konnte. Weder wusste ich, in welcher Stimmung ich morgens geweckt wurde, noch ob die eventuell gute Stimmung meinen morgendlichen 2-Minuten-Gang zur Toilette überdauern würde. Wenn ich aus der Schule nach Hause ging, malte ich mir jeden Tag unzählige Möglichkeiten aus, was mich erwarten könnte. Tatsächlich lag ich nie richtig, bzw. war keines meiner gedanklichen Szenarien jemals das, was dann real passierte.
Ich konnte mich nicht auf das „Ja“ zu einer Partyeinladung verlassen, weil es auch fünf Minuten vor Abfahrtszeit noch einen Stressauslöser geben konnte, der mich für Tage in den Abgrund eisigen Schweigens stieß und natürlich zu einem „Nein“ zu jeder Aktivität oder allen Versprechen wurde.

Es gab keine Sicherheit, nichts, was es vorauszuahnen oder zu wissen gab. Würde das Mittagessen fertig sein oder musste Frau Maria es erst zubereiten oder musste ich es erst kaufen gehen? Was für eine Laune erwartet mich, wenn ich ins Erdgeschoss gehe oder das Knallen der Haustüre das Heimkommen der Schritte ankündigte? Würde der Berg Bügelwäsche zu Frau HinzundKunz gefahren oder wurde er zu meiner Wochenendbestrafung? Konnte ich ein zufriedenes Murmeln der Anerkennung erreichen oder das wütende Gezeter, das das Zerknüllen des gesamten Bügelwäscheberges begleiten würde? Wenn ich nach Hause käme, wäre sie vielleicht schon unterwegs zum shoppen in Düsseldorf oder Münster oder würde ich mitfahren müssen und demnach knapp 1 Stunde im Faraday’schen Käfig eingesperrt sein und dem Geschrei nicht entweichen können? … man erahnt vielleicht die Dimension.

Diese Unberechenbarkeit hat in all ihrer Furchtbarkeit zwar einerseits dazu geführt, dass ich mich nahezu auf gar nichts verlassen kann, sehr schlecht innig vertrauen kann, schwer loslassen kann und Schwierigkeiten habe, Dinge abzugeben. Aber andererseits hat es eine Art Erwartungsarmut – wenn nicht -freiheit!- geschaffen, die ich als sehr angenehm empfinde.
Die für mich oft unerklärliche Enttäuschung anderer von ihrer Umgebung habe ich wieder und wieder hinterfragt. Warum oder wie kann Ixypsilon wohl von Ypsilonzett enttäuscht sein, wenn Ypsilonzett doch kein Versprechen geleistet und gebrochen hat? Was an Ypsilonzetts Verhalten ließ Ixypsilon glauben, es gäbe ein Versprechen, unausgesprochen, und einen Anspruch auf Erfüllung?

Ent-täuschung bedeutet im Wortsinn immer, dass einer sich ein Bild von einem anderen macht, von dem der eine sich dann selbst überzeugt und dann auch die Täuschung im Bild des anderen selbst aufdeckt.
Im Grunde ent-täuscht nie ein anderer, sondern der eine sich selbst. Er gibt das täuschende Bild des anderen auf. Es ist tatsächlich vermessen, einen anderen für diese Ent-Täuschung verantwortlich zu machen, denn in meiner Welt bestimme ich die Farben, in denen das Bild des anderen gemalt wird und dieser andere kann nichts dafür, wenn ich die falschen Farben für ein fröhliches Bild verwende, das dem anderen aber gar nicht entspricht.
Wenn ich mit anderen interagiere, versprechen sie mir nichts. Ich empfinde andere als leere Leinwand, für die ich die Farben aussuche. Mein Gegenüber verhält sich, seine Handlungen sind Ausdruck seines Charakters, der Persönlichkeit. Ich sauge dieses Verhalten auf und bestimme für mich die Farben, die dieses Verhalten verdient. Ich kann das nicht voraussehen, es gibt nichts, auf das ich mich verlassen oder was ich kontrollieren kann. Ich kann nur von außen auffangen, filtern und bestimmen, wo es in mir selbst eingeordnet wird oder seinen Platz findet.
Wenn das Verhalten meines Gegenüber dann -meines Erachtens!- Farben erfordert, die mir nicht gefallen, dann ist nicht der andere schuld, sondern ich nehme auf, was ich sehe und wie ich das empfinde und verleihe meinem Nicht-Mögen oder einer Ablehnung durch die Scheußlichkeit der Komposition auf der Leinwand in meiner inneren Kopfgalerie Ausdruck.
Deshalb kann ich die Farben auch wieder schöner gestalten, wenn der andere Verhalten zeigt, das ich gut finde, bei mir positiv ankommt. Oder das Gegenüber mir sagt oder zeigt, dass ich ein Verhalten falsch oder unangemessen interpretiert habe.
Ich kann also nicht wirklich enttäuscht werden oder sein, weil ich die Farben auf die Leinwand bringe und nicht der andere sie mir aufzwingt. Ich erwarte von anderen nahezu gar nichts, außer dem -deswegen ‘nahezu‘- was uns Spiegelneuronen natürlich aufzwingen zu erwarten: die Ausführung einer Geste, Höflichkeit oder andere soziale Normen.
Ich kann immer nur entscheiden, welche Farben meines Gefühls nach zum Verhalten passen und ob das Bild des anderen, das ich gemalt habe, eines ist, das ich in meiner Galerie hängen haben möchte, oder nicht.

So ungut es bis heute ist, warten zu müssen, nicht zu wissen, wie das Ergebnis einer Prüfung ist oder ungewiss zu sein, was andere zu etwas sagen oder denken, so gut ist es, Verhalten anderer nicht vorauszusetzen.
Jede mir erzählte Geschichte ist eine Offenbarung, jede Handlung eines anderen kann überraschen und Vertrauen ist etwas, das ich als größtes Geschenk erachte.
Aber auch ich selbst scheue mich vor nahezu nichts mehr. Es ist mir meistens egal, wie andere mich beurteilen, denn ich kann das genauso wenig beeinflussen oder kontrollieren, wie sie die Farben, die ich ihnen zuweise. Jeder kann für sich entscheiden, ob er mich mag, ob die Farben, die mein Verhalten als Ausdruck meines Wesens kleiden, welche sind, die einen beleuchteten Platz in seinen Ausstellungsräumen rechtfertigen.

Und ich bin mutig. Ich gehe auch in die gefürchtetsten Situation erhobenen Hauptes. Ich bin bis jetzt noch immer ungebrochen, tausendmal bis fast zur Vernichtung gefallen und doch wieder aufgestanden.
Aus unmenschlicher und zerstörerischer Unberechenbarkeit ist großtmögliche Gelassenheit in der Erwartungsfreiheit geworden. Die polierte, silberne, schimmernde Seite der zwei einer ehemals komplett schmutzigen Medaille.